Transliteration:
Hamburg, den 3. Juli [1878]
Lieber Carl,
ich hatte so lange keine Gelegenheit, Dir zu schreiben,
dass ich mich sorge, Du könntest an meiner
Freundschaft und Anhänglichkeit zu zweifeln [beginnen und] das
mich veranlasst, Dir diesen Brief zu
schreiben. Dein letzter Brief hat mich so
gefreut. Das ich einen so gehorsamen »Sohn« habe!
Und mein sehnlichster Wunsch ist [es], ein freunliches
Gestirn möge über Deinem Schicksal leuchten und sein
Licht stets auf das Lieblichste fallen, das ich in meinem
Herzen für Dich fühle.
Es hat mich auch sehr gefreut, dass Du
wieder mit den Deinen vergnügt bist und
Dich Pfingsten amüsiert hast. Ich wäre gern ein
unsichtbarer Gast gewesen. Am 22. Juni war
Gröbels Silberhochzeit, wo ich mich reichlich
amüsiert habe, denn ich war da zum Kuchen-
und Ente[essen]. [Es gab] ein allgemeines Lob. Elise,
Lilli und Finni führten ein Theaterstück auf,
wobei ich auch behilflich war. Es ging recht
lustig zu. Ich war dort von einem Morgen,
6 Uhr bis [zum] anderen Morgen, 5 Uhr. Ich
habe mich aber so erkältet, dass ich die ganze
Zeit Zahnschmerzen hatte und deshalb Deinen
lieben Brief nicht beanwortet habe. Am Donners-
tag, dem 6. Juli, habe ich wieder eine silberne
Hochzeit und so geht es jetzt immerzu. Ich
war noch nicht einmal auf dem Lieblings-
platz, dem Kirchhof, wo ich so gerne weile.
Lieber Carl, eine Bitte habe ich noch an Dich.
Es ist um Deiner selbst willen. Sei vor-
sichtig und beherrsche Deine Leidenschaft.
Etwas, von dem ich Dir berichten will.Es war auf Gröbels Hochzeit
ein Mädchen, welches mir mithelfen
sollte. Es sah aber jeden Augenblick seiner
Niederkunft entgegen. Die vielen Tränen
haben mich ganz missgestimmt. Ich tröstete es
so sehr ich konnte, aber diese Verwünschungen
und Flüche können [für] den Mann nie gute
Folgen haben. Deshalb, lieber Carl,
hüte Dich. Der Himmel hat schützend
seine Hand über uns gehalten. Ich dachte
so viel an die beste ... Stunde.
Du bist noch so jung und Dein ganzes
Leben würde zerstört sein. Denn das ist für
den Einen so schlimm wie für den Anderen.
Auch bitte ich Dich, Lieber Carl, dem
Freud, dem Du noch oft schreibst, nichts
von uns zu schreiben, da ich [ihm gegenüber] Misstrauen
hege. Die Domstraße ist recht hübsch. Aber
Du sollst nicht so viel Geld dafür ausgeben.
Lieber Carl, ich bete immer für Dich und bitte den
Lieben Gott, er möge Dich beschützen. Vergiss Gott auch nicht!
Ich will kein Pfand aus deinen Händen.
Denn deiner Lieb ich mag vertraun.
Nicht Eide, die dich mir verpfänden,
Nicht Blicke, die mich süß beschaun.
Will nur die Hand aufs Haupt dir falten
Und deine Seele nur befragen,
Wie sie es mit den Herrn will halten.
Dies Eine soll mir alles sagen.
Will wieder an die Arbeit gehen,
Mit freudigem Sinn und frommem Mut.
Dort droben gibts ein Wiedersehn
Und hier steh ich in Gottes Hut.
Das höchste Glück hat keine Lieder,
der tiefste Schmerz hat keinen Laut.
Sie spiegeln beide still sich wider
im Tropfen, der vom Auge taut.
Nun will ich schließen, denn ich bin sehr müde.
Lebwohl und sei herzlich gegrüßt und ...
von Johanna.
Schreib bald wieder. Ich glaubte [schon], Du hättest mein Schreiben
nicht bekommen. Nun Gute Nacht!
Anmerkungen:
Der Brief korrespondiert mit einem weiteren Objekt des Museums für Post und Kommunikation Berlin, einem offensichtlich vorher von Johanna an ihren zuvor abgereisten Geliebten Carl geschriebenen Brief vom 08. April 1878. Da der Briefumschlag mit der Adresse fehlt und auch im Text keine weiteren Hinweise zu beiden Personen enthalten sind, bleiben Absender und Empfänger des Briefes bis auf die Vornamen und den Absendeort Hamburg unbekannt. Der Text wurde im Zeitgeschmack und wenn die eigenen Worte fehlten, mit Zitaten aus einem »Haussekretär« (Vorlagen usw. für alle Gelegenheiten) und der Erbauungsliteratur angereichert, jedoch wie der ganze Brief grammatikalisch und orthografisch eigenwillig. Das letzte Zitat auf der Seite 4 ist z.B. die 1. Strophe eines Gedichts von Julius Carl Reinhold Sturm (1860 – 1896), Pseudonym Julius Stern, einer der bedeutendsten Dichter der Spätromantik, von 1856 bis 1885 auch Pfarrer von Köstritz, er verfasste zahlreiche Gedichte und Prosawerke, die er in ca. 30 Büchern veröffentlichte:
Das höchste Glück hat keine Lieder,
der tiefste Schmerz hat keinen Laut.
Sie spiegeln beide still sich wider
im Tropfen, der vom Auge taut.
So einen sich in stummen Zähren
das höchste Glück, das tiefste Leid,
bis sie in Liebe sich verklären,
anbetend in Gottseligkeit.
Der Brief fällt in die Zeit kurz vor Erlass des Sozialistengesetzes vom 21.10.1878, als die Freie und Hansestadt Hamburg sich von dem großen Stadtbrand vom 5. bis 8. Mai 1842,
der 1/3 der Innenstadt vernichtete, wieder erholt hatte, wirtschaftlich durch Handel und Schifffahrt florierte, 1867 dem Norddeutschen Bund beigetreten war, 1871 ein Bundesstaat
des Deutschen Reiches wurde und 15 Umlandgemeinden in Vororte umgewandelt wurden, ein bedeutender Umstiegsplatz für Auswanderer war und die Entfestigung der Stadt vor ihrem Ende stand (Entfernung der Wallanlagen 1820 –1880). Das aufstrebende Hamburg war auf dem Weg in die Moderne.
Das großzügig gestaltete Briefpapier des Briefes von 1878 ist ein Beispiel der bekannten Kanningschen Briefbögen mit den kolorierten Kreide- und Federlithographien auf dem ganzen Bogen. Von den dekorativen, lebendig und kräftig kolorierten Ansichten auf der Vorderseite der einfach gefalteten unbeschriebenen Bögen existieren eine Vielzahl unterschiedlicher Hamburger Motive. Der Lithograph und Drucker David Martin Kanning (1806-1884) betrieb von 1844 bis 1878 eine lithographische Anstalt in Hamburg. Neben großformatigen Lithographien und dem Briefpapier erschienen ab 1866 auch Modellbaubogen, die Kanning selbst oder sein Mitarbeiter Schöpel entwarfen. Diese zählen zu den schönsten ihrer Art und zeichnen sich ebenfalls durch eine sehr große Sorgfalt und Detailltreue aus. 1878 ging die Firma dann an Jakob Ferdinand Richter über, der 1851 eine Verlagsbuchhandlung, Buch- und Zeitungsdruckerei gegründet hatte. Richter druckte die von Kanning erworbenen Vorlagen unverändert weiter und änderte nur die Verlagsbe-zeichnung. Die in großer Stückzahl gedruckten bildlichen Darstellungen waren für die Verlage ein einträgliches Geschäft.
Bei dem Zeichner dieser Lithografie-Vorlage, Ed. Kanning, wird es sich wohl um einen Sohn des Verlagsinhabers handeln.
Lithograph/Lithograf (von altgriechisch lithos = Stein und graphein = schreiben): Beruf aus der Drucktechnik. Der Lithograf überträgt eine der Druckvorlage möglichst genau entsprechende Kopie manuell und seitenverkehrt auf den Lithografiestein (Kalkschieferstein aus Solnhofen in Bayern). Der Druck vom Stein ist die Lithografie. Der Steindruck war
im 19. Jahrhundert das einzige Druckverfahren, das größere Auflagen farbiger Drucksachen ermöglichte und basierte auf einer Erfindung von Alois Senefelder aus dem Jahr 1798.
Elise und Lilli: Kurzformen von Elisabeth, Karoline, Julie
Finni, Fiene, Fina: niederdeutsche Kurzformen von Josefine
juß: meint den alten Ausdruck justament = jetzt, just, augenblicklich, kürzlich, momentan, nun
Quellen:
http://de.wikipedia.org
http://synonyme.woxikon.de
http://www.swissmodellbogen.ch
http://www.antiquariat.de