St. Louis, den 15. März 1867
Wertester Schwager und Schwester,
Euer Schreiben vom 2. Oktober habe ich am ersten September (? Monat unklar) richtig erhalten und daraus entnommen, dass ihr noch alle frisch und gesund seid, was mich sehr gefreut hat. Aber wie ich feststellte, hat sich doch viel in der Zeit geändert, seit ich von Euch fort bin. Denn Ihr schreibt von vielen unerwarteten Sterbefällen, von denen ich immer gedacht habe, das könnte nicht möglich sein. Aber ich muss es doch glauben. Bei keinem kommt es mir auffallender vor, als bei Eurem Bruder Jakob.
Ich will auch immer [schon] mitteilen, dass ich nicht mehr in Aurora bin, sondern am achten Dezember von dort fort[gegangen] und nach Saint Louis gereist bin, was mich aber schon gereut hat.
Ich bin aus Aurora fort[gegangen] und habe achtundsiebzig Taler
mitgenommen. Das übrige ließ ich beim Kostherrn in der Meinung
zurück, bis die [Summe] verbraucht sei, hätte ich auch Arbeit bekommen.
Aber ich hatte mich sehr geirrt. Denn als ich ankam, fragte ich nach Arbeit,
aber vergebens. Ich blieb zwei Monate und so war mein Geld alle. Da ließ ich mir wieder vierzig Taler schicken. Das langte wieder ein paar Wochen, aber am Ende hatte ich wieder kein Geld und keine Arbeit. Und so waren drei Monate vergangen, und [ich hatte] noch keine Arbeit und [war] schon zwei Wochen das Kostgeld schuldig. Nun wusste ich aber bald nicht [mehr], was ich anfangen sollte. Ich brauchte keine Not zu leiden, denn ich hatte noch Geld offen stehen, aber ich wollte auch nicht den letzten Pfennig ausgeben. Ich lief nun die ganze Stadt ab und endlich, nach langem Suchen, fand ich wieder Arbeit bei einem Schreiner. Und so kann ich auch jetzt Geld verdienen. Ich hätte nicht aus Aurora fort[gemusst], aber ich will zuerst Amerika durchreisen. Ob ich wieder nach Deutschland komme? Ich will [ja] mein Reisegeld aus Deutschland auch nicht ausgegeben haben, um bloß die Stadt New York anzusehen, sondern auch noch die übrigen bedeutenden Stätten, so wie es St. Louis eine ist. Die Stadt hat über zweihunderttausend Einwohner. Sie liegt dicht am Mississippi, das ist der größte Fluss in Amerika.
Da kann man jeden Tag hunderte von Schiffen sehen, die mit Fracht
beladen den Fluß auf- und abwärts fahren. Das sieht schön aus. Darum
reut es mich auch nicht, dass ich die Reise gemacht habe. Wenn ich Euch nicht versprochen hätte, nach Deutschland zu kommen, so würde ich noch eine Reise nach Australien machen. Danach würde meine Neugierde
befriedigt sein. Aber mein Versprechen werde ich halten und ehe ein
Jahr vergeht, werden wir uns wiedersehen. Aber wieder bei Euch zu bleiben,
das kann ich nicht versprechen. Nachdem hier jetzt die Gesetze geändert
und die Sklaverei aufgehoben wurden, lasse ich mich auch nicht in Deutschland [fest]binden.
Ich denke, wenn ich wieder reise, so komme ich nach Deutschland.
Wenn ich das Geld genommen [hätte], das ich im Winter verbraucht hatte, so
könnte ich die Reise auch nach Deutschland machen. Aber ich bin noch keine drei Jahre fort und vor drei Jahren will ich nicht zurück. Dazu ist das Geld zu wertvoll, ich würde fast ein Drittel einbüßen. Ich hatte Euch auch versprochen, etwas Geld zu schicken, aber ich habe zu viel Verluste. Darum kann ich mein Versprechen ohne Schaden [nicht] halten. Doch wenn es nötig ist und ihr in Schwierigkeiten seid, so kann ich noch immer helfen, wenn es [daran] fehlt.
Denn [dazu] bin ich immer bereit.
Wie es mit dem Heiratsgeschäft steht, so ist es noch immer beim
Alten. Aber es ist auch nicht meine Schuld, denn ich weiß keines zu erreichen. Darum seid Ihr so gut, mir in Neukirchen eine [Frau] auszusuchen.
Dann werde ich diese nehmen und nach Amerika führen, wenn sie mit
geht. Lieber Schwager, Ihr schreibt, Gott verlässt keine Deutschen, [das] hätte sich im Krieg bewiesen. Das hat sich hier aber anders gezeigt. Denn es waren [die] Deutschen hier, die Gott doch verlassen [hat]. Denn sie hatten kein Geld, und so hatten sie auch nichts zu Essen. Und so mussten sie die Kleider vom Leibe verkaufen, um [sich] durch das Leben zu schleppen. Da hat sich Gott [von der] schlechten [Seite] gezeigt. Es ist diesen Winter hier in Amerika mehr Hunger gelitten worden, als in fünf Jahren in Neukirchen und ganz Deutschland. Hier in Amerika kann man nicht betteln gehen wie in Deutschland. Das ist ganz unüblich. Aber ihr könnt auch nicht jedem Brief glauben, der aus Amerika kommt. Denn die größten Hungerleider schreiben die »fettesten« Briefe. Im Sommer, wenn sie Geld verdienen, so schreiben sie,
sie hätten es zu Tausenden und nachher werden sie so arm, dass
sie sich nicht zu helfen wissen. Ich war bis jetzt, Gott sei Dank, noch immer frisch und gesund, das ist noch immer das Beste. Und wenn man auch einmal drei Mohnate lang nicht arbeitet, aber sich so viel gespart hat, das man [davon] leben kann, so geht [es] doch.
Es ist jetzt Zeit zum Mittagessen, darum muss ich aufhören zu schreiben. Ich wünsche, dass Euch mein Schreiben bei so guter Gesundheit antreffen [möge], wie es mich verlassen hat. Neuigkeiten weiß ich keine Besonderen. Seid so gut, und schickt die zwei beigefügten Briefe an ihren Bestimmungsort. Da ich nicht möchte, dass die Briefe ihr Ziel nicht erreichen, steckt sie in [zusätzliche] Umschläge. Sie sind sonst aus zu dünnem Papier, das leicht zerreißen kann. Ich habe Euch auch die Stadt[ansicht] von St. Louis auf dem Brief [mit]geschickt, so könnt Ihr den herrlichen Anblick des Mississippi sehen. Ich wollte, Ihr wäret einen Tag hier bei mir, dann könntet ihr mehr sehen, als in 10 Jahren bei Euch in Neukirchen.
Ich denke, dass wir bis zum Herbst wieder beisammen sein [werden],
wenn Gott mir meine Gesundheit erhält. Es ist genug, ich will also
schließen und Euch alle bestens grüßen, Schwester, Schwager und Enkel.
Dann grüßt mir auch alle Verwandten, Bekannten und Nachbarn, aber besonders meinen Blumme Patt.
Euer treuer Bruder und Schwager
Joseph Becker
Meine Adresse ist
Mr Joseph Becker
in St Louis Staate
of Missouri Nordamerika
Ich denke auch noch an meine beiden Nachbarn Bart und Becker.
Und ich möchte doch gerne wissen, was die Hand macht. Ob sie faul zum Schreiben [sind] oder nicht. Ich denke, es wird nicht so schlimm sein. Ich denke, sie ist etwas träge. Es grüßt Euch [Euer] treuer Freund
Joseph Becker