Gabriele Münter gehörte der Kerngruppe des Blauen Reiters an. Die Künstlerin wurde 1877 in Berlin geboren und starb 1962 in Murnau. 1897 besuchte sie eine Damenkunstschule in Düsseldorf. Sie zog 1901 nach München und studierte an der Malschule des Künstlerinnen-Vereins. Mit Kandinsky, Franz Marc und Alfred Kubin trat sie 1911 aus der »Neuen Künstlervereinigung« aus, um ihren künstlerischen Vorstellungen im Rahmen des Blauen Reiters nachzugehen. 1917 ging sie nach Kopenhagen, 1925 zog sie nach Berlin und schließlich 1931 nach Murnau.
In ihrem späten Gemälde »Der blaue See« malte Gabriele Münter die Landschaft um den Staffelsee von einem erhöhten Betrachterstandpunkt oberhalb der Murnauer Bucht. Münter erfasst das Tal, den Himmel und den See in einfachen, gestaffelten Farbflächen und -zonen und beschränkt sich farblich und formal auf das Wesentliche. Komplementärkontraste wie Grün und Rot, Blau und Gelb lassen die Farben leuchtender hervortreten. Rechts im Bild ragt als vertikales Element und zugleich als kompositorischer Akzent eine Telegrafenstange empor, verstärkt durch ein vereinfacht dargestelltes Haus und eine Dorfkirche am Hang.
Das Naturvorbild ist in Flächen und abgegrenzte Schichten überführt und lebt ganz von der Wirkung von Farbe und Form. Die so geschaffenen farblichen und formalen Kürzel stehen atmosphärisch für das Farbenspiel der Natur und die landschaftliche Wirkung im Tageslauf. Das Gemälde verweist auf den Stil späterer Jahre, bei dem Münter eine ruhige ausgeglichene Wirkung der Landschaft evoziert. Zu ihrer Auffassung von Landschaft äußerte Gabriele Münter 1948: »Von nun an bemühe ich mich nicht mehr um nachrechenbare, richtige Form de Dinge, und doch habe ich nie die Natur überwunden, zerschlagen oder verhöhnen wollen. Ich stellte die Welt dar, wie sie mir wesentlich schien, wie sie mich packte. Gegen die jüngeren Jahre ist wohl die Keckheit zurückgegangen und die Zahl der lichteren und ausgeglicheneren Bilder gewachsen.«
»Der Blaue See« entstammt einer Zeit, in der sich die Künstlerin ansonsten auf Arbeiten auf Papier konzentrierte. In den Arbeitsheften ist das Gemälde mit einer Merkskizze eingetragen: Sie malte es nach einem Entwurf von 1913 am 29. April 1958 »nach der Jause« auf neue Leinwand. Am 29. Mai gab sie es dann in eine Münchener Privatsammlung. Die Landschaft um Murnau und den Staffelsee mit ihren leuchtenden Farben und klaren Formen inspirierten die Künstlerin über 54 Jahre zu Gemälden und Papierarbeiten.
Das Werk steht für Münters Vorgehen, in späteren Jahren mehrere Versionen nach früheren Motiven und Studien zu arbeiten. So stammen bereits von 1923 eine Aquarellstudie mit Telegrafenstange, die von einem erhöhten Standpunkt aus, jedoch aus anderer Perspektive ähnlich den Ausblick auf den Staffelsee gibt und eine Zeichnung, die den Telegraphenmast vergleichbar rechts im Bild zeigt. Im Gegensatz zum Gemälde »Der blaue See« ist im Aquarell der Telegrafenmast als Repoussoirmotiv im Vordergrund ein bildbestimmendes Element. Ein weiteres Aquarell aus dem Jahre 1935 »Aus dem Burggraben mit Telefonstange« zeigt eine Straße Murnaus, die von einer Telefonstange dominiert wird. Die Dialektik von Natur und menschlich erschaffener technischer Umwelt ist nicht nur in anderen Werken Münters, sondern auch in Bildern anderer Künstler des Blauen Reiters präsent. Eines von mehreren Beispielen dafür ist Alexej Jawlenskys Gemälde »Landschaft mit Telegrafenleitungen und roten Schornsteinen«.
Zitiervorschlag
Gemälde "Der Blaue See mit Telefonleitung", 1958; Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Inventarnummer: 4.0.838,
URL: https://onlinesammlung.museumsstiftung.de/detail/collection/db8aad54-9263-4b4f-8e39-ed1f25c34aaf (zuletzt aktualisiert: 26.11.2024)