Der 1937 in Berlin geborene Künstler studierte von 1957 bis 1964 an der Hochschule für Bildende Künste Berlin. 1976/77 hatte er eine Gastdozentur an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg inne. Johannes Grützke lebte und arbeitete in Berlin und der Lüneburger Heide. Von 1992 bis 2002 hatte er eine Professur für Malerei in Nürnberg inne. Johannes Grützke starb am 17. Mai 2017 in Berlin.
1990 erhielt Johannes Grützke den Auftrag für ein Werk für die Eingangshalle des neueröffneten Deutschen Postmuseums in Frankfurt. Er führte es als zweiteiligen Fries mit dem Titel »Stille Post« aus. Bei der »Stillen Post« handelt es sich eigentlich um ein Gesellschaftsspiel, wobei eine Botschaft von einer Person zur anderen mündlich oder schriftlich weitergegeben wird und den Empfänger schließlich mit verfremdeter oder sogar gegensätzlicher Aussage erreicht.
Der Künstler notierte in seinem Werkbuch zu dem Gemälde: »Vor einem Vorhang, wie auf schmaler Bühne, geben sich lauter Männer in weißen Hosen Zettel in die Hand. Ganz rechts ist es aber eine Frau mit schwarzen Hosen. Alle bilden einen Reigen, mit einer Kreuzung in der Mitte, also bilden sie eine Acht. Zwischen ihnen Tiere, die die Kontinente darstellen sollen: zwei Paviane, ein Schaf, drei Hühner, eine Gans, - ein Fisch auf einem Teller soll (wegen der postalischen Kommunikation auch über die Ozeane hinweg) die Ozeane darstellen (mein Piraña). Dem Thema Kommunikation gewidmet, für das Postmuseum. Es geht in der Malerei immer um Malerei, welche aber ohne körperliche Entzündung nicht funktioniert, daher ist jeder Vorwand recht und durch Stellvertreter authentisch, d. h. durch weitläufige Allegorien, d. h. durch meine Modelle und mich.«
Grützke rückt das Simultangeschehen wie auf einer Bühne nah in den Vordergrund. Die Leserichtung entwickelt sich von links nach rechts: Akteure sind eine Frau in schwarzen Hosen, die an einem Tisch sitzt und mehrere Männer, die dem Künstler auffallend ähneln, in der Rolle der Überbringer. Sie bilden einen Reigen in Form einer Acht, den die Briefbotschaft durchläuft. Die Bewegung und der Verlauf des Vorhangs hinter den Figuren unterstützten den Eindruck einer Bühne als Schauplatz einer dynamischen Choreografie. Mit dem Weiß der Hosen setzt der Künstler Akzente, die den Tanz um die Nachricht ausdrücken.
Im Sinne einer triptychonartigen Aufstellung stechen drei Motive kompositorisch hervor: Links der Mitte der Mann mit überkreuzten Armen und die Zweiergruppe eines Flüsternden und eines konzentriert Lauschenden mit Zettel und Bleistift und rechts die Frau, die die Aktion wendet. Die Post wird im wahrsten Sinne des Wortes »still« weitergeleitet, d. h. nonverbal. So vermeiden die Protagonisten bei der Briefübergabe jeden Blickkontakt. Zudem unterstreicht ihre Mimik die Unfähigkeit zur Kommunikation: Die Verweigerungshaltung offenbart sich in den geschlossenen Augen, in blinden Brillengläsern, in leeren Augenhöhlen und in voneinander abgewandten Körperhaltungen. Selbst der Flüsternde und der Hörende kneifen die Augen angestrengt zusammen. Der Akt der Nachrichtenübermittlung erscheint, auch durch die Form des Reigens, wie ein endloser Kreislauf.
Fünf Tierarten mit symbolischer Bedeutung begleiten die Figurengruppe in der Mitte. Im Sinne weltumspannender Kommunikation stehen sie für die Kontinente und die Ozeane. Neben einer Gans sind drei Hühner, zwei Paviane, ein Schaf und ein toter Fisch auf einem Teller zu sehen. Verschiedentlich gibt es Anklänge an bekannte kunsthistorische Motive. So erinnert der Rückenakt an den Torso von Belvedere oder Michelangelos Figuren in der Sixtinischen Kapelle. Die helle Farbigkeit in weiß-bläulichen Tönen sowie die verwobene Komposition lassen an die barocke Deckenmalerei des Rokokos, etwa eines Giovanni Battista Tiepolo denken.
Bildmotive und Kompositionen vereinen sich im aktuellen Bezug. Es entsteht eine ironisierende Dialektik zwischen heiterem Spiel und der realen Unfähigkeit zur Kommunikation, unterstützt durch die mimische und gestische Verzerrung der Figuren.
Die Protagonisten erhalten die Funktion von Stellvertretern, die hier in die Rolle allegorischer Figuren schlüpfen, die nahezu spielerisch das Prinzip der »Stillen Post« repräsentieren. In Grützkes Werken werden gesellschaftliche Ereignisse, persönliche Erfahrungen und enzyklopädisches kunsthistorisches und mythologisches Wissen nebeneinandergestellt, kunsthistorische Bildzitate willkürlich kombiniert. Dies jedoch nicht um der historischen Authentizität und Nachbildung willen, sondern mit der Intention besonderer und gezielter Bildaussagen.
Zitiervorschlag
Diptychon "Stille Post", 1990; Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Inventarnummer: 4.0.975,
URL: https://onlinesammlung.museumsstiftung.de/detail/collection/d5ccf005-7093-4171-a27e-0cb8afd89b5f (zuletzt aktualisiert: 9.5.2025)