Der Videokünstler, Komponist und bildende Künstler wurde 1932 in Seoul, Korea geboren und starb 2006 in Miami, Florida. 1956 schloss Nam June Paik sein Studium der Musik- und Kunstgeschichte sowie der Philosophie an der Universität Tokio ab. 1957/58 studierte er Komposition bei Wolfgang Fortner an der Musikhochschule Freiburg. 1979 wurde der Künstler auf eine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf berufen.
Nam June Paiks »Pre-Bell-Man« entstand als Auftragsarbeit anlässlich der Neueröffnung des Deutschen Postmuseums 1990. Der Künstler stellte die Plastik als Collage aus Objekten, Geräten und Bauteilen von Radio- und Fernseh-Geräten aus den Sammlungen des deutschen Postmuseums in Frankfurt a. M. her.
Das Pferd erinnert in seiner Haltung an das Reiterdenkmal des Condottiere Bartolomeo Colleoni von Andrea Verrocchio in Venedig. Die Person des venezianischen Söldnerführers, der selbst politische Macht und Fürstenstatus errang, mag Paik - mit kritisch-ironischem Hintersinn - zur Figur eines modernen Condottiere inspirierte haben. Anders als oft kolportiert, erwarb Paik das Pferd nicht in einem venezianischen Trödelladen, sondern in New Orleans, wo es während des Mardi Gras in einem Karnevalsumzug verwendet wurde.
Der Ritter setzt sich aus den verschiedenen technischen Kommunikationsmedien zusammen, die zugleich als Museumsstücke Geschichte repräsentieren. Das Design der Geräte setzte der Künstler gezielt ein. Als bereits vorgefertigte Teile verweisen sie in der Zusammensetzung mit Ironie auf die einzelnen Bestandteile der Ritterrüstung. So bildet ein Volksempfänger den Helm, der durch seine Formen Visier und Öffnung wiederzugeben scheint und ähnlich den Aufsätzen mittelalterlicher Helme von einer Antenne bekrönt wird.
Ein Fernseh- und Radiogerät bilden den Rumpf. Kopf und Rumpf werden von farbigen Neonröhren erleuchtet, die ähnlich mittelalterlichen Harnischen die Körperformen andeuten. Der rechte Arm des Reiters besteht aus einem Allverstärker und mündet in einem Vorschaltwiderstand ähnlich einer Lanze, während links, einem Schutzschild gleich, eine Test- und Prüfantenne für Richtfunk verbunden sind. In dem Kasten, der als Schild fungiert, sind farbige Leuchtröhren installiert, die ein Gesicht mit großem »Kussmund« bilden und so die furchterregenden Gesichter auf echten Kampfschildern zitieren und in ihrer heiteren Farbigkeit ironisieren.
Die Assoziation ergibt sich nicht zufällig, da Don Quijote als »anachronistischer Ritter für eine imaginäre Herzdame gegen Windmühlenflügel ankämpft«. Längs gestellte Radiogeräte bilden die Beine. Im Linken erscheint eine von Neonröhren »umkränzte« Beethovenbüste, die auf einen der klassischen Ahnen der Musik verweist, dessen Musik durch das Massenkommunikationsmittel Radio einer breiten Zuhörerschaft zugänglich wird.
So ist der Pre-Bell-Man zugleich eine Metapher für das dem Menschen eigene Bemühen um Fortschritt. Das verschiedenfarbige Aufblinken der Neonleuchten lässt an eine Filmsequenz aus »Der elektronische Reiter« mit Robert Redford von 1975 denken, in der ein mit blinkenden Leuchten und Neonröhren ausgestatteter Reiter mit seinem Pferd den drittklassigen Darbietungen der Werbe- und Unterhaltungsindustrie entflieht. In der Leuchtkraft der Farben liegt Schnelllebigkeit, Aggression und zugleich Faszination. Eine weitere Deutung erschließt sich aus der Möglichkeit, die Plastik von allen Seiten zu betrachten.
Das Gesicht des Condottiere erstrahlt aus dem Volksempfänger. Zugleich ist auf der Rückseite ein weiteres Gesicht zu sehen, ähnlich antiken Janusstatuen. So vereint die Figur mehrere antike Göttergestalten. Hermes oder lateinisch Mercurius vereinte unter anderem die Schutzfunktion von Verkehr, Nachrichten und Transport und war zugleich Schutzpatron der Wanderer, während Janus der Gott des Torbogens ist und den Ein- und Ausgang bewacht.
Kulturgeschichte vereint sich mit Technikgeschichte und findet in der Synthese zu einer Neudeutung. Im Zusammenspiel der technischen Gerätecollage mit der naturalistischen Kopie des Pferdes erhält die Figur tragikomischen Charakter, ähnlich dem des »Ritters von der traurigen Gestalt, »Don Quijote«.
So vereint Paiks Plastik des Pre-Bell-Man viele historische Aspekte und Assoziationen kommunikationshistorischer Traditionen. Die Titelgebung spielt mit dem Namen des Engländers Alexander Graham Bells, der 1876 das Patent für das sogenannte Bell-Telefon anmeldete. Die Zeitrechnung lässt Paik vor Bell beginnen. Nach Angabe des Titels ist der »Mensch vor Bell« 501.860 Jahre alt. Paik ironisiert die Entwicklung des Menschen, indem er die Zeitrechnung mit der Person Bells als Fixpunkt anthropologischer Betrachtungsweise beginnen lässt. Die Menschheitsgeschichte soll in Hinblick auf die Entwicklung der Kommunikationstechnologie neu betrachtet und hinterfragt werden.
Zitiervorschlag
Medienplastik "Pre Bell Man", 1990; Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Inventarnummer: 4.2003.762,
URL: https://onlinesammlung.museumsstiftung.de/detail/collection/8f7a15f9-4824-400c-bb8a-2a4393c2d1a7 (zuletzt aktualisiert: 26.11.2024)